Vernunft und so.

berge

Wir haben die Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung in den Skiurlaub mitgenommen. Ein Fehler? Gleich am ersten Urlaubsabend habe ich den Artikel „Höhenrausch“ von Titus Arnu gelesen.
„Ist man als Wintertourist automatisch ein Naturzerstörer“, fragt er darin und: „Die Antwort lautet, leider: ja, jedenfalls meistens.“

Nicht sonderlich überraschend. Vor allem, wenn während der Urlaubstage statt der sonst üblichen Winterstille, dem „Krcchchhhch“ von Ski- und Snowboardkanten, die auf Schnee treffen und dem gemächlichen Gebrumm der Lifte das nimmermüde Gebläse unzähliger Schneekanonen zu hören ist.

Mist.

Am nächsten Tag scheint die Sonne auf schneebedeckte Bergspitzen. Blauer Himmel dahinter. Die Bäume haben Schneekleider an, die Piste fast unberührt, der Schnee abseits der Piste tatsächlich unberührt, Schneekristalle funkeln, die Oberschenkelmuskulatur seufzt nur ganz leise ob des gestrigen Gebrauchs, die Verhältnisse derart allumfassend berauschend, dass ich mir immer wieder einbilde, tatsächlich Skifahren zu können. Die nächstbeste, scheinbar aus dem Nichts kommende Bodenwelle belehrt mich eines Besseren. Auch die Jungs und Mädels im Rennanzug belehren mich eines Besseren. Schnell ist relativ.
Egal. Der nächste Geschwindigkeitsrausch kommt so sicher wie die Bodenwelle.

Am letzten Tag verabschieden wir uns vom Hotelpersonal mit einem: „Bis nächstes Jahr.“

Tja.

Abgezuckert.

Was ist das denn für Musik?, fragt der MMM.
Ich höre das Regal auf, antworte ich.

Der MMM versteht mich. Der MMM ist der Beste.
Nur die Musik findet er jetzt nicht so gut.
Ich ja auch nicht.
Aber das wusste ich bis eben noch nicht – Regal aufhören ist Teil meines aktuellen Freifläche-Projekts. Heute sind die CDs an der Reihe. Einmal durchhören, zumindest, wenn es sich aushalten lässt.
In diesem Fall eher nicht, daher: Ab auf den Flohmarktstapel.

Im nächsten Fall: Zeitreise in die Vergangenheit. Wiederentdecken längst vergessener Dauerschleifen.
Der MMM jetzt etwas entrüstet, als ich ihn mit „Ey, was geht’n Alter?“ anspreche. Ich kann aber nichts dafür, ich habe mittlerweile Kopfhörer auf. Mitsingen ist ja wohl erlaubt.

Fünf Sterne deluxe (womit auch der Titel dieses Beitrags erklärt wäre).
Bleibt.

Hoffnung?

Wenn ich schon daran scheitere, einem Menschen, der mir und der Welt gegenüber freundlich gesinnt ist, einem Menschen, der die Tür noch ein Stück weiter aufmachen würde, wenn ein Mensch in Not davor steht – wenn ich daran scheitere, diesem Menschen den Glauben zu nehmen, den Glauben daran, einen, der im Zug sitzt und dessen Haut eine andere Farbe hat, automatisch als einen von denen einzuordnen.
Wenn ich daran scheitere, mein Nicht-Verstehen in Worte zu fassen, Nicht-Verstehen über die Existenz dieser Schublade. Die. Denen. Solche.
Wenn ich weiter daran scheitere, diesem freundlich gesinnten Menschen das Verständnis zu nehmen für diejenigen, die sehr wohl in Worte fassen können, dass es doch wohl nicht sein könne, dass solche immer! die neuesten Smartphones hätten. Von unserem Geld.

Wenn ich schon daran scheitere, den Nachrichtensprechern zuzuhören. Mir ihre Bilder anzusehen. Wie sie von einer Nachricht zur nächsten wechseln, und zur übernachsten, einfach so. Und ich habe die erste noch gar nicht verkraftet. Und jetzt das Wetter.

Wenn ich in die Oper gehe, mir Macbeth anhöre und es nicht fassen kann: 400 Jahre später und im Grunde hat sich rein gar nichts verändert. Blut an allen Händen.

Wenn ich schon an der Selbstverständlichkeit scheitere, der Nachbarin, deren Bad renoviert wird, Zugang zu unserer Dusche zu gewähren, einfach so. Selbstverständlich. Stattdessen schreibe ich mir virtuelle Bonuspunkte gut und fühle mich als Wohltäterin.

Wenn ich daran scheitere, das Aufrechnen sein zu lassen.

Und daran, beim Einkaufen den Marktleiter anzusprechen. Ob er das nicht makaber findet – hier die Zeitungen mit ihren Titelblättern vom Tod, daneben das Karnevalsregal. Ein bisschen Konfetti, ein bisschen mehr Spielzeugpistolen. Piff, paff, puff.

Wenn ich daran scheitere, meine behagliche kleine Welt zu verlassen. Daran scheitere, etwas zu tun. Weil ich nicht weiß, was das Richtige ist. Weil es einfacher ist, nichts zu tun. Weil es ja doch nichts nützt.

Wenn ich schon daran scheitere.

Kleines Glück.

adapter

Untertitel:
Was nützt einem Nirvana in Zimmerlautstärke?
(Oder: Was nützt es, wenn man zwar einen Kopfhörer hat, der Adapter zum Hi-Fi-Gerät aber nur dann funktionstüchtig ist, solange sich das ihm innewohnende Kabel nicht bewegt?)
(Das da oben ist der Neue. Der erträgt auch Hüpfen, Springen, Kopf schütteln, sich im Kabel verheddern.)
(Ja, ich weiß. Es gibt auch Kopfhörer ohne Kabel.)

Jahreszeiten-Korrespondenz.

Meine liebe Frau Winter,

ernsthaft jetzt? War das wirklich schon alles? Darf ich Sie mal dezent ans Datum erinnern?
5. Januar.
5.(!) Januar (!).
Hallo?
Es ist nun wirklich – wirklich! – noch nicht an der Zeit, Herrn Frühling das Feld zu überlassen. Besser: dem Herrn eine ordentliche Ladung Schnee überkippen. Bisschen Eisregen dazu, Kälteperiode hinterher, fertig. Können Sie doch.
Denn, zugegeben: Sie haben schon ganz ordentlich vorgelegt:
Schneemannschnee, Pulverschnee, Schlittenfahrschnee, Schneeballschnee, Glitzerschnee, Im-Schnee-versink-Schnee und Dickflockenschnee, der an Oberflockenbacher Tage* heranreicht.
Allein: Das reicht nicht! Noch lange nicht!
Reißen Sie sich also bitte mal zusammen. Faulenzen können Sie später noch. Es gibt Leute, die wollen noch Skifahren. Iglus bauen. Eispfützen zertreten. Rauhreif zerknistern. Schneebälle auf Eiszapfen werfen. All sowas. Können Sie doch.
Also machen Sie bitte auch mal.
Danke.

* Oberflockenbach. Ein längst vergangener Tag eines fernen Winters, seither der Inbegriff für richtige viele, richtig dicke Flocken. Inklusive zusätzlicher Winterromantik à la schnaubende Pferde unter knorrigen Apfelbäumen auf verschneiten Wiesen.

 

Herr Frühling,

so geht das nicht. Wirklich nicht. Ich weiß, es ist schwer. Gerade für Sie. Haben Sie doch so viel Energie wie 36 Kindergartenkinder*, die sich gerade noch den Bauch mit Weihnachtsplätzchen vollgestopft haben und jetzt auf den Nikolaus warten.
Hätte ich nur eine pädagogische Ausbildung vorzuweisen. Dann könnte ich Sie problemlos in ihre Schranken verweisen. Oder Sie einfach niederbrüllen. Oder beides. Was auch immer man da so tut.
Tja.
Lassen Sie es einfach sein. Bitte. Warten Sie, bis Sie drankommen und nein, das ist weder morgen noch übermorgen, das ist frühestens Anfang März, können Sie beispielsweise hier nachlesen.
Außerdem: Ja, ja. Sie sind der Tollste. Der Superman der Jahreszeiten und durch nichts, gar nichts kleinzukriegen. Sie locken Weidenkätzchen aus dem Winterschlaf, schmelzen Eis, tauen Schnee, bringen das Gras zum Wachsen und die Vögel dazu, das Frühlingsrepertoire herauszuholen. Und so weiter und so fort. Toll. Sogar ich habe Ihnen heute zugelächelt.
Und doch: Sie sind noch nicht an der Reihe. Wir sehen uns im März.
Tschüss.

* 24 davon mit ADHS und/oder ähnlichem.

Neu?

Frau L. ist tot. Das kam nicht sonderlich überraschend – es ist schon eine Weile her, dass Frau L. ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert hat. Aber vor allem hat Frau L. in letzter Zeit immer weniger gegessen.

So fängt das also an, das neue Jahr. Gestern noch Traumschiff*, heute ein Abschied.
Ein entfernter. Ich weiß nicht viel über Frau L. Sie mochte am liebsten Himbeerjoghurt, hielt Käse für eine absurde Idee in Anbetracht dessen, dass man auch Wurst haben kann und war bei Besuch immer herrlich aufgeregt.

So viele Menschen und ich weiß nichts kaum etwas von ihnen.
So viele Menschen nicht mehr da.
So viele Jahre vorüber.
Ein Jahr vorüber. Ein Jahr mit Frau L. und
anderen.
Draußen schwemmt der Regen den Schnee davon.

Und auch schon wieder die Hälfte des zweiten Tages vorbei. Ein paar Dinge getan, noch mehr Dinge zu tun. Vielleicht einen Schritt weiter auf diesen Ort zugegangen, an dem es nicht mehr schlimm ist, dass es immer noch mehr Dinge zu tun gibt.
(Das ist das Leben, sagte der MMM.)
Kürzlich habe ich eine dieser Zen-Geschichten gelesen. Leider finde ich sie nicht mehr – sie ging ungefähr so: Ein Novize kehrt heruntergefallene Ahornblätter zusammen. So lange, bis kein Blatt mehr am Boden liegt. Kommt der Meister und rüttelt am Baum.

2015 also. Auf ein neues.

 

* Ups. Wäre wohl besser aufgehoben in: „Enthüllungen – was besser ungesagt bliebe.“

Winterstille.

Wenn der Winter zu einem echten Winter wird – mit Schnee und Eis und kalt, ein bisschen Sonne dazwischen und noch mehr Schnee – dann komme ich immer ins Grübeln, ob der Herbst tatsächlich meine liebste Jahreszeit ist.
Weil Winter, echter Winter, so schön still ist. Herbst ist ja auch alles mögliche, aber Winter, Winter ist die Erlaubnis, sich auf dem Sofa einzurollen. Durch Schneeflockenstille zu laufen. Schneebälle in den Fluss zu werfen. Eispfützen zu zertreten. Der Winterstille hinterherzulauschen. Unbegangenes Weiß zu begehen, sich vielleicht sogar hineinfallen zu lassen.
Winter ist die Erlaubnis, nichts zu tun.
Mehr Schnee, bitte.

(Fast) Alles weg.

leeresRegal

Wo andere ein Regal bauen, miste ich lieber aus. Damit ich guten Gewissens sagen kann: „Regal? Brauche ich nicht, das würde ja doch nur leerstehen.“

Freie Flächen machen mich glücklich. Da musste nicht erst Karen Kingston kommen und ein Buch schreiben, damit ich das herausfinde.
Freie Fläche bedeutet: da stehen keine Bücher mehr, die ich irgendwann ein zweites Mal lesen werde (oder auch nicht). Da steht auch keine Kiste mehr, mit der ich irgendwann (oder auch nie) zum Flohmarkt gehe. So ein Flohmarkt, der zieht ja wieder unendliche Listen hinter, nein, vor sich her. Man muss herausfinden, wann er stattfindet, jemanden finden, der mitkommt, das ganze Zeug ins Auto packen, aber das Schlimmste am Flohmarkt: es kommt nie einer und kauft dir den Stand leer, am Ende hast du eben nur noch siebzehn Kisten statt einundzwanzig. Siebzehn Kisten zu viel.

Jetzt steht da, wo vorher ziemlich viel stand: nichts mehr. Staubflocken und ein leises: „Der Staubsauger. Hol den Staubsauger.“
Aber sonst: Nichts.
Himmlische Ruhe*.

 

* Geschichte am Rande: Der Fassadenjob ist zur Zeit voller Weihnachtslieder. Live gesungene, da lässt sich leider nichts machen. Wo es ihnen doch so viel Spaß macht.
Abgespielte, da lässt sich dann schon was machen: Heute genau bei „Himmlischer Ruh“ den Stecker gezogen.
Himmlische Ruhe zur Folge.

Nur zu.

„Nur zu“, antwortet Herr Speedhiking, als ich sein neues Regal bewundere und „Jetzt will ich auch eins“ sage.

Nur zu, ja ja.
Wenn das so einfach wäre.
(Natürlich ist es so einfach. Weiß ich doch. Eigentlich.)

Irgendwann, irgendwo bin ich über einem Persönlichkeitstest gestolpert: wie das bei Persönlichkeitstests so üblich ist, wird man in Schubladen eingeteilt, in diesem Fall anhand eines Regals, beziehungsweise der Herangehensweise an ein Regal.

Leider weiß ich nicht mehr, wie der Test hieß, weiß auch nicht mehr, wie die Schubladen hießen, weiß also überhaupt nur noch sehr wenig. Was ich mir gemerkt habe:
Eine der Schubladen war mit so etwas wie „Planen“ überschrieben. Was bedeutet, dass die Phase vor dem Regalbau ungleich länger dauert, als der Regalbau selbst. Informationen sammeln, planen, noch mehr planen und schließlich das beste aller Regale zusammenbauen.

Dann gibt es eine Schublade mit Leuten, die sofort in den Baumarkt fahren, Bretter und anderes Zubehör einkaufen und – wieder zu Hause – merken, dass die Bretter nicht durch die Haustür passen, die Farbe bei Tageslicht wie Hühnerkacke aussieht und das notwendige Werkzeug dummerweise noch bei Opa im Keller liegt. Aber egal, irgendwie klappt das dann doch mit dem Regal.

Es gab noch andere Schubladen, deren Überschriften und Inhalte ich allerdings vergessen habe.
Und es gibt meine Schublade.

Meine Schublade ist voller Bedenken. So eine Backgroundmusik, die sofort einsetzt, mir einredet, ich könne das eh nicht, Regalbau, also wirklich und selbst wenn, es fehle doch an allem, wir haben nicht mal mehr einen Akkuschrauber (bräuchte man einen?), man müsste zum Baumarkt fahren, man müsste wissen, was man will, vor allem auch, wie das gewünschte Regal überhaupt aussehen soll, und, und, und.
Die Hintergrundmusik gipfelt in der Frage: „Brauche ich wirklich ein Regal?“
Und sie wird mit Nein beantwortet. Viel zu viele Umstände. Unmöglich. Lohnt den Aufwand nicht.
Tada. Schon ist das Regal, das es sowieso noch gar nicht gegeben hat, Vergangenheit geworden.

Aber schön wäre es schon.

Nur zu.
Vielleicht ein neues Jahresmotto. Ist ja bald Silvester und nächstes Jahr wird sowieso alles anders besser noch besser. Nicht wahr?

(Fast) Alles anders.

Diese Tage, die so völlig anders ablaufen als geplant.
(Also im Grunde alle. Ausgenommen die, für die es eh keinen Plan gab.)

Der Plan sah so aus: nach H. fahren. Ole Brumm dieses Mal ohne Fehl und Tadel (na ja, seit die Klimaanlage kaputt ist, beschlagen ständig die Fenster, aber hey, er ist schließlich nicht mehr der Jüngste).
Planänderung stattdessen weil: ein Anruf von K.
Zwischenstopp in der Zentralen Aufnahme, Psychiatrisches Zentrum.

Das Leben ist manchmal seltsamer, als alles, was man sich schreibend ausdenken könnte. Oder nein, das Leben ist genauso, wie sich das mancher Schreiber ausdenkt, so einer, dem man vorwirft, sämtliche Klischees zu bedienen. Das Leben eine Vorabendserie, Folge: K. und S. in der Psychiatrie.
Außerdem dabei:
Der ältere Herr, der nicht mehr weiß, wie er hierher gekommen ist. Jetzt will er aber wieder nach Hause. Wo das Zuhause sei, will der Mann vom Empfang wissen. Der alte Mann würde das auch gerne wissen.
Dazwischen eine Frau mit Reisetasche. Sie geht ein bisschen unter im Getümmel. Da sind nämlich auch noch Sanitäter, vier an der Zahl. Zwei gehören zu dem Mann auf der Trage. Der mit dem Helm auf. Zwei gehören zu einem anderen. Den sieht man nicht, aber alle zwei Minuten hört man ihn lachen, ein Lachen, das an Hitchcock-Filme erinnert (Szene: Der irre Mörder steht mit dem Beil hinter der Tür).
Immerhin, Polizisten sind auch schon da. Zwei an der Zahl, und sie haben einen Typen dabei, der aussieht, als würde er das Klappmesser aus der Lederjacke ziehen, sollte man auf die Idee kommen, ihn (zu lange) anzusehen.
Tatsächlich zieht er eine Art Rosenkranz aus der Jacke und es stellt sich raus: die Polizisten sind zu seinem Schutz da. Er ist nämlich derjenige, der bedroht wird. Glaubt er.

Mittendrin K. und ich.
K. lenkt uns mit Rilke ab: „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.“
Ja. Dann.
Nach Rilke kommt jemand, der mit uns reden will, so ganz offiziell, was können wir für Sie tun, warum sind Sie hier (ja, das würde ich auch gern wissen). Hauptsächlich will er natürlich mit K. reden, beziehungsweise K. soll reden, damit er das Sirren des Neonlichts nicht mehr hören/ertragen muss.
Ach so.
K. will hier nicht bleiben.
Versteh ich.

*

Später doch noch die Fahrt nach H.
Nicht vernünftig, aber notwendig. Seelenheil und so.

Dort:
Leberwurstbrot(e).
Alles wie immer.
Alles gut.
Darauf ist Verlass.
Zum Glück.

Danke.