Was ich will

Ich habe ein Buch gelesen: Nachts ist man am besten wach, von Kristina Sanders. Und natürlich ist das einer dieser Wohlfühlromane, niemals wäre die Wirklichkeit so pudrig rosa, das fängt schon damit an, dass fünf Menschen in einem Haus leben, ohne sich jemals zu streiten. Aber vielleicht stimmt das auch gar nicht, vielleicht ist die Wirklichkeit viel besser als man ihr nachsagt. Umgekehrt stellt es auch keiner in Frage. Diese Geschichten vom „echten“ Leben, die man erzählt bekommt oder selbst erzählt und hinterher sagt man: In einer Geschichte, einem Buch, würde einem das niemand glauben. Total unrealistisch, würden alle sagen.

Aber vielleicht ist das Leben ja so. Total unrealistisch.

Jedenfalls mochte ich dieses Buch sehr. Ich habe schon Unmengen Wohlfühlromane gelesen, überhaupt, was ist das für eine seltsame Kategorie, was für ein merkwürdiges Wort. Wohlfühlroman. Aber mir fällt gerade kein besseres ein. Ich habe schon sehr viele davon gelesen, die meisten sind doof. Wenn sie nicht unfassbar doof sind, lese ich sie oft trotzdem zu Ende. Und hinterher fühle ich mich schlecht.

Dieses Buch, diese Geschichte hingegen ist ungemein wohltuend. Obwohl sie doch gar nicht so viel anders ist als die anderen Geschichten. Dann aber doch. Ich habe keine Lust, darüber zu schreiben, warum das so ist. Ich weiß noch nicht mal, warum ich den Gedanken habe, ich müsste das tun. Ich kann doch hier tun und schreiben, was und worüber ich will.

Ich mochte das Buch vor allem deshalb, weil ich mir wünsche, dass ich diese versteckte Frau in mir drin auch endlich entdecke. Ihr Raum gebe. Da muss doch jemand sein. Da ist jemand. Ich weiß es. Ich weiß nicht, wer das ist, weiß noch nicht, wer ich sein kann, aber ich will es herausfinden. Ich weiß doch mittlerweile, wie das geht. Das Buch weiß es auch (zum Glück nur zwischen den Zeilen). Hinspüren. Hinhören. Ehrlich sein. Nicht mehr das tun, von dem ich denke, dass es irgendwer von mir erwartet. Herausfinden, was ich von mir erwarte.

Das Schöne ist, ich merke in letzter Zeit, dass sich tatsächlich etwas ändert, wenn es auch „nur“ meine Wahrnehmung ist. Immer öfter stehe ich neben mir und denke: Was zur Hölle tue ich da gerade?

(Herzlichen Dank dafür an M.)

Oder nein, meistens denke ich es erst hinterher. Was war das jetzt wieder? Warum verhalte ich mich so?

Netterweise ist dieser Gedanke neuerdings mit einem staunend-neugierigen Gefühl von „Ach guck“ verbunden und nicht mehr mit „Boah, du weiß es doch eigentlich besser, warum bekommst du es auch beim zweihundertsten Versuch noch nicht auf die Reihe?“

Weil ich noch nicht kann. Weil es so mühsam ist. Weil es viel einfacher ist, in siebentausend Wohlfühlromanen zu verschwinden, anstatt diese Leere auszuhalten, die sich auftut, wenn ich mich frage, was ich will. Was ich gerade brauche. Was mir gerade gut tun könnte. Und dann kommt da einfach nix.

Aber das stimmt nicht. Ich glaube das jetzt einfach nicht mehr. Ich weiß nicht, was ich will – vielleicht ist das einfach nur eine Geschichte, die ich mir schon viel zu lange erzählt habe.

Ich bin traurig.

Kürzlich hat mir das Internet von SAFE erzählt, einer Serie von Caroline Link zum Thema Kindertherapie.

Eine der Szenen, die bei mir hängengeblieben sind, ist die, als der sechzehnjärige Junge, der andere mit seinem Auftreten, seinen Worten, seinem Handeln Angst macht – als der auf einmal sagen kann: „Ich bin so traurig.“

Ich bin auch traurig. Ich denke immer, ich sollte es nicht sein, ich habe doch gar keinen Grund dazu. Es gibt so viele schöne Dinge in meinem Leben – ich bin gesund, habe eine Familie, ein Zuhause, neuerdings sogar einen Job, der mir Freude macht. Und doch. Ich bin traurig. Ich bin so furchtbar traurig und wenn ich denke, ich darf es nicht sein, macht das alles nur noch schlimmer. Und warum sollte ich auch nicht traurig sein, was ist denn so schlimm daran? Es geht vorüber. Nichts ist für immer. Irgendwann ist es wieder gut und erfahrungsgemäß ist es umso schneller wieder gut, je mehr ich es zulassen kann, je mehr das, was ich nicht haben will, eben doch da sein darf.

Ich bin traurig und denke, ich dürfte es nicht sein. Dass ich doch wenigstens einen Grund dafür haben müsste. Dies hat nicht geklappt oder jenes.

Ich habe keinen Grund. Oder vielleicht doch. Vielleicht den, dass vor vielen Jahren meine Mama gestorben ist. Da war ich zwei Jahre alt. Ich kannte sie gar nicht. Ich weiß nicht, wer sie gewesen ist. Sie war nicht für mich da. Sie war nicht mehr für uns da. Niemand wusste, wie man damit weiter leben kann. Man lebt trotzdem weiter, irgendwie geht das schon.

Das ist doch kein Grund, denke ich. Das ist so lange her.

Aber wenn noch nicht einmal das ein Grund ist, was dann? Dann darf ich nie traurig sein. Ich bin es aber. Ich bin traurig.

Und es ist gut.