Grün, grün, grün sind alle meine Felder.

Unser neuer Nachbar arbeitet fortwährend. Man, also ich, kann da schwerlich auf der Bank gegenüber vorm Haus sitzen und tiefenentspannt dem Nichtstun nachgehen.
Nichtstun ist sowieso schwierig, mit einer Anderthalbjährigen noch viel mehr, wie soll das gehen, der Nachbar jedenfalls ist auch nicht sonderlich geübt darin, eventuell hat er aber auch hinterm Haus, versteckt vor der Welt oder zumindest vor uns, eine Hängematte, aber wann könnte er darin liegen, ist er doch immer vor dem Haus, ist er doch immer bei der Arbeit.

Weil ich nicht länger zuschauen mag (und um ein anständiges Brot zu ergattern), setze ich m in den Fahrradanhänger fahre los.

Die Gerste wächst heran; Gerste, einer der wenigen Gründe, sich auf den Sommer zu freuen, auf grollende Mähdrescher, Staub in der Luft, flirrende Hitze, Schwalben im Tiefflug über weizengerstengelben Feldern, rote Mohn- und blaue Wegwarteblüten an den Feldrändern, die Luft steht, der Bussard kreist, die Stromleitungen an den Hochspannungsmasten surren, Marienkäfer bekrabbeln die gedroschene Gerste.

Noch ist die Gerste aber grün, gemischt-grün wie ein Frühlingswald, oben hell, unten dunkel. Wie immer frage ich mich, ob das nun Sommer- oder Wintergerste ist, P. habe ich schon ganz oft danach gefragt, P. weiß das, doch P. ist ein Geschichtenerzähler, kein Erklärer; eine seiner Geschichten spielt in einem Gasthaus irgendwo im Umkreis, eines von denen, die es nicht kaum mehr gibt, eines, das von einer dieser Frauen geführt wird, mit der man sich besser nicht anlegt, ein Original müsste ich wohl sagen, wenn ich das Wort besser leiden könnte.
P. und seine beiden Kollegen machen dort Mittag, einer der Kollegen ein bisschen mehr Chef als die beiden anderen, das könnte im Grunde egal sein, ist es dann aber nicht. Sie essen, ja, was eigentlich, ich weiß es nicht mehr, vielleicht Rindfleisch, sie trinken natürlich auch, vielleicht Bier, vielleicht Wein, etwas alkoholisches in jedem Fall. Für jeden gibt es das Gleiche, man geht nun mal wegen des Rindfleischs dorthin. Sie sitzen und essen und trinken und erzählen, die Pause geht dem Ende zu, sie wollen bezahlen, rufen die Wirtin.
12 Euro 50*, sagt die Wirtin zu P.
12 Euro 50, sagt die Wirtin zum Kollegen von P., was soll sie auch sonst sagen, sie hatten doch alle das Gleiche.
16 Euro, sagt die Wirtin zum Kollegen von P., demjenigen, der ein bisschen mehr Chef ist als die beiden anderen.
Aber wir hatten doch alle das Gleiche?, fragt er.
Du hast eine Krawatte an, sagt sie, da kannst du auch mehr bezahlen.

Doch zurück zum Gerstenfeld, eins liegt so wunderschön vor mir, dass ich anhalte, das geht, in aller Ruhe, m ist gerade eingeschlafen, ich stehe also vor der Gerste und erfreue mich des Nichtstuns, erfreue mich am Wind und den Wolken, die einander durchs Gerstenfeld jagen. Irgendwann kommt er bei mir an, der Wind und riecht – natürlich – nach Gerste, nach grüner Gerste und ich schaue und schnuppere und stehe da und stehe im Weg, da kommt nämlich einer, Hallo, sagt er, das sagt man hier so, auch wenn man sich nicht kennt, Hallo, sage ich, ein bisschen zu spät, er ist schon vorbei, ich habe mich noch nicht wieder ans Hallo sagen gewöhnt.

Hallo, sage ich, als ich zurückkomme, zum Nachbarn, der natürlich immer noch vorm Haus arbeitet, er sieht und hört mich nicht, jetzt wirft er auch noch die Steinsäge an, m wacht auf, Ade schönes Nichts und das Brot, das ich wollte, das habe ich auch nicht bekommen.

 


* Fantasiepreis. Waren vermutlich sowieso noch DM.

Weh.

Zuhause bin ich, ganz unverkennbar.

Unverkennbar, das sagt auch Frau W. in der Metzgerei, den Faden verliert sie gar, als sie m sieht, Also das ist ja unverkennbar!, ruft sie, meint aber nicht mich damit, jedenfalls nicht so, wie es all die anderen in der Zwischenheimat meinten.
Unverkennbar, wiederholt Frau W., und ihr Kunde muss drei Mal wiederholen, dass er einen halben Ring Lyoner möchte.

Zuhause, und das auch schon im neuen Haus, in dem es jetzt klingelt; G. klingelt, die Nachbarin, die so viel mehr ist als das; jetzt hat m ihren Spaß und ich auch und G. (glaube ich) ebenso.

Zuhause, das ist samstags zu P. hinunterlaufen, der Nachbar kommt, gefolgt von seinem Hund (oder umgekehrt), der Nachbar, der immer einen Spruch parat hat, B. kommt in den Hof gefahren, lädt Getränke aus, H. kommt, geht zu den Hühnern (die Hühner!), W. kommt auch noch und irgendeiner läuft den Mühlbuckel hinunter, grüßend; P. sitzt auf der Bank, oder in der Waschküche, in der schon lange nichts mehr gewaschen wurde, überhaupt ist sie nicht zum Waschen da, dafür riecht es nach Schinken, niemand geht hungrig oder durstig aus der Waschküche heraus, noch nicht einmal der Bürgermeister, so ist das Zuhause und wie die Leute reden.

Unverkennbar sind auch die Hügel und die Bäume auf den Hügeln, Obstbäume, Nussbäume, ein Falke, ein Bussard, Grün, dieses Grün, und Gelb, dieses Gelb und wie das riecht.

Aber dann laufen wir die Straße entlang, m findet jede Pusteblume, ich finde, es ist ziemlich laut, fuhren hier schon immer so viele Autos, und so schnell, und wo sind eigentlich die Menschen, keine alten Damen mit ihren Hunden unterwegs, auch nicht die Frau mit dem Lastenrad, und schon gar nicht das Ehepaar, immer zusammen, nie allein, immer eingehakt, er sieht aus wie Christopher Walken, ist es aber nicht; m und ich laufen zum örtlichen Einkaufsmarkt, einkaufen war auch schon mal schöner, warum haben sie die Lieblingsmilch, aber nicht die Lieblingsbutter, wieso sind die Pilze cellophaniert und wo ist eigentlich die Hefe; aber das wäre alles nicht so schlimm, doch dann, an der Kasse, da ist keine Frau S., die m namentlich begrüßt, sich freut und Quatsch mit ihr macht, da ist eine Frau, deren Namen ich nicht weiß, sie weiß unseren auch nicht, es könnte ihr auch nicht egaler sein, wie irgendjemand heißt, das Weh meldet sich, es meldet sich so lautstark wie die Autos, die an uns vorüber brausen, kaum, dass wir wieder auf die Straße hinaus treten; jetzt schnell weg, nur weg, die Straße hinter uns lassen und ab ins freie Feld, so war das eigentlich nicht geplant, zu matschig, zu anstrengend, aber das ist jetzt egal, nur weg, und da steht der L., Grüß dich, sagt er und es wird schon besser, das Weh, dann lassen wir auch den L. hinter uns, vor uns das Grün, ist das so grün und der Wind und die Felder und wie das riecht, und der Wald, es gibt sogar Waldmeister, und Sumpfdotterblumen, und die Bäume und die Hügel und der Wind.

Als wir wieder zu Hause sind, haben der Wind und die Hügel und das Grün das Weh davongetragen, das meiste davon, unverkennbar.

In der neuen Heimat.

Im Ort, in dem heute die Deutsche Meisterschaft im Mensch-ärgere-dich-nicht ausgetragen wird*, stehen wir mit einem Eis vor der Eisdiele, die nach all den Jahren immer noch da ist (und immer noch ist das Eis in D. besser). Neben dem idyllisch gluckernden Bach, der noch vor wenigen Monaten gar nicht so idyllische Schlammwüsten hinterlassen hat, sitzt eine Frau mit Kind an einem der Eisdielentische, isst – natürlich – Eis und unterhält sich mit ihrem Kind in einer uns unbekannten Sprache.

Aus der Eisdiele stürzt eine Frau in die Idylle, mitten auf der (eher unbefahrenen) Straße bleibt sie stehen, zieht ihre Jacke an und verkündet der sitzenden Frau mit Kind laut: „Wenn sie mit ihren Enkelkindern Mensch-ärgere-dich-nicht spielen, dann verlieren sie immer!“
Im örtlichen Dialekt sagt sie das.
„Ja“, sagt die sitzende Frau und würde die Herausstürzende die Sitzende wirklich wahrnehmen, würde sie merken, es ist ein ratloses Ja, eins von denen, die man entgegnet, weil ein Ja jetzt vielleicht genau das richtige sein könnte. Eventuell.
Die herausgestürzte Frau nimmt allerdings nichts davon wahr, sie hat mittlerweile längst ihre Jacke angezogen und eilt davon, die sitzende Frau sieht ihr schulterzuckend hinterher.

„Die Botschaft kam jetzt nicht an“, sage ich zum MMM.
„Was hat sie denn überhaupt gesagt“, fragt der MMM, der zwar mittlerweile meinen Papa versteht, was durchaus etwas heißen will, für den der örtliche Dialekt aber anscheinend immer noch eine Herausforderung ist. „Ich habe sie auch nicht verstanden.“

 

* Ja, genau, Deutsche Meisterschaft. Mensch-ärgere-dich-nicht. Wir haben uns auch gewundert.

vorher | nachher

 


* Dieser komische Punkt in der Mitte der Bilder: Eine weitere Folge Gescherbtes. Habe ich nämlich das Handy fallen lassen. Ups. Ging aber alles noch. Dachte ich. Stimmt ja auch. Fotos jetzt eben mit Punkt in der Mitte.