Wer bist du?

Vor Jahren bin ich vor einem Seminar davongelaufen, auf dem unter anderem diese Frage Aufforderung gestellt wurde: „Sag mir, wer du bist.“
Einer, der fragt und sonst nichts weiter tut, als zuzuhören. Ohne Kommentar. Die Frage erneut stellt, wenn der andere verstummt.
Drei Minuten lang ist das Antworten einfach – was man eben so sagt, das Übliche und noch ein bisschen mehr. Mit was jetzt aber die restlichen zwölf Minuten füllen?

Heute stellte sich die Frage wieder, auf einem Zettel, in einem öffentlichen Bücherregal:
„Wer bist du? Beschreiben Sie sich in wenigen Sätzen selber.“

Wenige Sätze. Auf dem DIN-A4-Blatt ist noch viel Platz.

Da steht schon:
„Ich bin jemand, der das nicht kann (…)“.
Wer kann das schon, sich selbst beschreiben? Natürlich kann ich mich beschreiben, aber ist das dann auch wahr? Beschreibe ich nicht jedes Mal eine andere, je nachdem, von wem ich gefragt werde? Bin ich trotzdem immer dieselbe?

Ich bin diejenige, die auf einer Bank sitzt, am Neckar, in der Frühlingssonne. Die einem vorüberfahrenden Schiff hinterhersieht und Hunden, die sich balgen. Diejenige, die Gesprächsfetzen aufschnappt („Wir haben eben Waldorfkinder“) oder gar nichts mehr hört und sieht, weil sie schreibt.
Diejenige, die fast nicht auf dieser Bank sitzen würde, weil sie sich dieses Glück nicht gönnt – sie hat doch noch gar nichts getan, nichts geleistet heute?
Diejenige, die einen Schaumkuss im Rucksack hat – geschenkt, eine Zufallsbegegnung – und drei Bücher, eins vorsätzlich, zwei gefunden, im öffentlichen Bücherregal neben dem Zettel mit der Frage darauf.
Diejenige, die immer lacht, auch wenn die Dunkelheit allumfassend ist.
Diejenige, die allein auf dieser Bank sitzt und niemanden vermisst. Weil sowieso alle da sind, irgendwie. Weil es sie gibt. Weil es sie nicht mehr gibt, aber doch.
Wer sind sie überhaupt?
Wer wäre ich ohne sie?

Wer bist du?

Allgemein

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